Sonntag, 16. März 2014

Die Spiegelträgerin




Ich bin gerade dabei meine Lebensgeschichte "die Spiegelträgerin" zu korrigieren. Es werden wohl mehr als 500 Seiten werden, ein echter Wälzer. Ich bin jetzt bei meinem Co-Mama Schwangerschaftstagebuch angekommen, ich korrigere und schreibe in kursivschrift, was ich damals wirklich gefühlt habe. Dabei ist mir etwas sehr wichtiges aufgefallen.

Ich habe mein DIS vollkommen ausgeklammert, aus Angst für unzurechnungsfähig gehalten zu werden. Das Buch ist super ehrlich, ich versuche wirklich meine Gefühle, mein Erleben zu beschreiben, aber statt mein Multiple sein dort einzublenden, blendete ich es vollkommen aus. Um zu erklären wie ich mich damals gefühlt habe, schrieb ich solche Sätze:

"Ich hatte Angst vor der Natur, weil ich mich mit ihr verband!"

Als ich das las, dachte ich, was ist das denn für ein Schwachsinn.
Da war die alte Angst regelrecht fühlbar. Also löschte ich den Satz und schrieb statt dessen:

"Ich versank viel zu schnell in die meditative Dissoziation in der ich auch stundenlang verharren konnte. Eine lautlose Stille die mich in sich aufnahm, ähnlich den Gefühlen die ich als Kind hatte, als ich meinen Baum umarmte und das machte mir damals eine Heidenangst. Ich versank und war weg und in der Zeit hätte alles Mögliche passieren können. Ich hatte Angst meinem Kind nicht gerecht zu werden. Und ich hinterfragte meine Gefühle, mein Muttersein.

Zu dem Zeitpunkt konnte ich mit niemanden darüber reden, auch mit Britta nicht. Ich wollte nicht den Eindruck hinterlassen unfähig zu sein. Meine Ängste gehörten nur mir."

Dann habe ich es Britta vorgelesen und wir sprachen das erste mal offen über meine damaligen Ängste.

Ich fühlte mich furchtbar alleine, Jo war zu  diesem Zeitpunkt sehr oft anwesend und jedesmal wenn sie da war, hatte sie Panik, Panik vor der Verantwortung Mutter zu sein. Auf der einen Seite freute sie sich auf dieses kleine Baby, doch andererseits hatte sie einfach Angst zu versagen.
Damals agierten wir oft noch getrennt, wir fühlten uns, aber wir konnten nicht kommunizieren.
Ich spürte ihre Anwesenheit und sie meine. Und so überschattete mein Glück ihre Angst und umgekehrt.
Und bei allem musste ich noch ein Forum leiten, und Beratungen geben. Ich war vollkommen überfordert.

Damals betreute ich ehrenamtlich Regenbogeneltern und solche die es werden wollten. Wir nennen uns Regenbogeneltern, Homosexuelle Eltern. Ich weiß gar nicht ob der Beriff von mir kam, wahrscheinlich nicht. Aber zu dem Zeitpunkt war ich die erste hier in Deutschland die ein Forum aufbaute für homosexuelle Menschen die Eltern sein wollten. Ich machte damals die Bechermethode bekannt. Denn als ich 2004 anfing mich mit meinem Kinderwunsch auseinander zu setzten, begegneten mir noch viele lesbische Frauen die dachten sie müssten mit einem Mann sex haben, um schwanger zu werden.

Ich hielt Interviews zu diesem Thema, ich war politisch und öffentlich angreifbar. Und bei allem musste ich eloquent und vertrauenswürdig so tun, als sei ich der normalste  Mensch auf der Welt. Ich hätte meine Arbeit und somit die Möglichkeit die Bechermethode publik zu machen gefährdet.
Kein Mensch durfte im Außen erfahren, das ich Multiple war. Ich war es den Frauen schuldig, die sich mir anvertrauten. Damals arbeitete ich noch offen als Familienberaterin. Ich eine Multiple Frau, mir hätte kein Mensch vertraut, wäre das raus gekommen - so zumindest dachte ich damals und manchmal auch noch heute... Ich erinnere mich noch an ein Interview in Wien, damals wurden wir vor laufender Kamera und Publikum angegriffen. Wir schafften es gerade noch, bis zum Ende der Sendung, dann brachen wir zusammen. Jo kam mit offenen Angriffen überhaupt nicht zurecht, sie rannte aus der Halle und als sie hoffte das niemand zusah bekam sie einen Weinkrampf. Britta kam und hielt sie fest. Jo verstand überhaupt nicht was da passiert war, sie verstand nicht warum die Menschen so gemein zu ihr waren.
Kurz nachdem unsere Tochter geboren wurde, nahm die Überforderung zu, ich schaffte es nicht Privatleben und ehrenamtliche Arbeit zu verbinden. Meine Tochter hatte bei all dem Vorrang und so gab ich das Forum und die Webseite auf. Ich glaube ich habe einige Frauen vor den Kopf gestoßen und im Nachhinein tut es mir leid, doch wäre ich ehrlich gewesen, hätte man mein Muttersein angezweifelt. Es gab keine gute Lösung.
Ich bin gegangen.

Die Kontrolle bei all dem zu behalten, hat mich viel kraft gekostet. Ich musste oft im Außen so tun, als sei ich EINE Persönlichkeit. Zuletzt bei unserem Video über unserem Tierhof. Man sieht nur mich. Die Jo Szenen wurden geschnitten, worüber ich letztendlich dankbar bin. Jo ist oft sehr kindlich, sie stellt fragen, die irritieren, sie lacht und schäkert und gleichzeitig hat sie Angst vor zu viel Nähe.

Man sieht mir meine Anspannung an, ich wirke verkrampft aber ich wirke trotzdem selbstsicher. Das ist es, was ich nach Außen vermitteln will: Selbstsicherheit.

Der Begriff: "die Spiegelträgerin" stammt von einem Mädchen, sie ist wie ich Synästhetikerin. Sie sagte eines Tages zu mir: "Du bist wie eine Spiegelträgerin, du siehst die Gefühle der Menschen wie durch einen Spiegel. Damals wusste sie nicht, dass ich auch mich selbst wie durch einen Spiegel sehe, manchmal verzerrt, manchmal ganz klar und manchmal auch gar nicht.

Mein Multiple sein ist jetzt kein Geheimnis mehr, doch ich weiß  nicht ob ich bereit bin so offen vor die Kamera zu treten, um davon zu berichten, wie ich es getan habe, um über Regenbogeneltern zu sprechen, oder über unseren Tierhof, über unser Leben als Buddhisten, oder damals als man mir das erste Mal ein Mikro vor die Nase hielt, am Tag meiner Scheidung von Robert. Damals war Jo anwensend, sie lachte vor laufender Kamera und sprang die Treppen hinunter direkt in Brittas Arme. Und als ich dann einige Tage später genau diese Szene im "Standtgespräch" im Hessen Fernsehen sah, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.

So allmählich begreife ich, wenn ich die Besuchszahlen unseres Blogs ansehe, dass es Menschen gibt die mehr darüber wissen wollen und zwar offen, sie wollen keine Ausflüchte, sie wollen wissen wer wir sind, die Multiplen, die Andersartigen. Es gibt Momente da fühle ich mich wie in einem Zoo, man bestaunt ein ungewöhnliches Tier.
Und dann gibt es wieder Momente, da fühle ich mich wie eine Kämpferin, ich werde mich wohl immer für die Rechte derer einsetzten, denen ich solidarisch gegenüber stehe. Für die Homosexuellen, für die Kranken, für die Multiplen.

Einfach weil ich eine von euch bin!
Wenn ihr keine Stimme habt, ich möchte sie euch leihen!

Ich will nicht mehr in der Versenkung verschwinden und so tun, als sei ich jemand anderer. Ich möchte klar machen: Ja das ist mir passiert, aber ich bin heute ein anderer Mensch. Ja ich habe Erinnerungen und manchmal da haben meine Innenpersonen das Gefühl mitten drin zu sein, sie spüren wieder die alten Schmerzen, sie fühlen die Vergewaltigungen als würde es eben passieren. Aber wir kennen das bereits, wir wissen wie wir damit umgehen müssen, um trotzdem noch leben zu können.

Der Käfig den ich mir selbst Jahrelang zurecht geschmiedet habe, hat nun verbogene Gitterstäbe. Ich, das ungewöhnliche Tier bin ausgebrochen und ich glaube nicht, das man mich jetzt noch einfangen kann.

Als ich es damals öffentlich gemacht habe, das ich lesbisch bin- , als ich öffentlich gemacht habe, das wir uns ein Kind wünschen-, als ich vor die Kamera getreten bin um über die politische Einstellung zu Homosexuellen hier in Deutschland zu sprechen - all das hat mich und getragen und später auch meine Frau und meine Tochter. Dass ich heute über mein Viele rede, wird uns weiter tragen. Unsere Tochter ist zu einem unglaublich toleranten Mädchen geworden. Sie freundet sich mit Kindern an, die ihre Sprache nicht sprechen. Sie mag Menschen die ungewöhnlich sind. Sie sagt NEIN wenn sie etwas nicht will und findet Erklärungen warum sie es nicht gut findet.
Sie hebt kleine Käfer auf, um sie vor Spaziergängern zu retten. Sie liebt es Schnecken dort hin zu setzten, wo besonders viel Gras ist und sie kann sich den ganzen Tag mit unseren Hühnern beschäftigen, sie füttert sie mit "Hühnersuppe" (einem Gemisch aus Wasser und Körnermehl). Sie holt jeden Tag die Eier, um sie dann an die Nachbarn zu verteilen, sie hilft mir beim Füttern unserer Katzen, sie will dabei sein, wenn ein Tier stirbt, dann malt sie Bilder, die wir dann in ihre Gräber legen.  Und sie liebt Monster high Trickfilme und Barbie Filme. Und sie liebt es sich dreckig zu machen, ihr Lieblingssatz: "Mami das ist normal wenn man draußen spielt. Da wird man nun mal dreckig!"  Sie macht mich verdammt stolz, weil sie so ist wie sie ist.
Sie sagt solche Sachen wie: "Das ist jetzt echt Scheiße Kacke Blöd!"

Und streckt mir hinter den Rücken die Zunge rauß, oder macht mich angenervt nach: "Blablabla...". Wenn sie mal auf was gar keine Lust hat, brüllt sie: "Ich hab jetzt keinen Bock!" und ich verdreh die Augen, weil Jo das auch immer sagt.
Überhaupt ist sie unserer Jo total ähnlich, sie sieht aus wie eine Mischung aus Grid und Sweppi und wenn sie diskutiert über die Welt und über die Dinge die sie gerade neu erfahren hat, dann sagt sie es so, als hätte ich noch nie etwas davon gehört. Sie zieht die Augenbrauen leicht nach oben und erklärt es mir mit diesem Allwissenden Blick und dann sehe ich mich selbst in ihr.

Meine Tochter verkörpert uns alle zu gleichen Teilen. Es gibt Momente da muss ich mich erklären, Als wir hier her zogen, erfuhren die Kindergärtnerinnen, dass Shaya zwei Mütter hat. Sie wissen das ich Shaya nicht geboren habe und trotzdem bekomme ich oft zu hören: "Ihre Tochter ist ihnen sehr ähnlich!"
Manchmal versuche ich es klar zu stellen: "Genetisch gesehen kann das nicht sein, ich habe sie nicht geboren!" Und einmal da dachte eine Kindergärtnerin ich würde sie auf den Arm nehmen und wurde richtig ärgerlich. 

Morgen ist ihre Schuluntersuchung, ich werde sie hinbringen. Obwohl die Unterlagen an Britta gingen. Britta fragte mich, ob sie was unterschreiben muss, aber ich winkte ab. Ich werde es dort erklären und wenn jemand ein Problem damit hat, das ich eben nur die Co-Mama bin, habe ich genug Selbstbewusstsein, damit umzugehen. Und sollte Jo in der Zeit anwensend sein, wird sie ziemlich klar sagen, dass es die Ärzte nichts angeht, Jo ist weniger Diplomatisch als ich. Aber auch damit kommen wir zurecht.

Letztens sagte sie: "Ich hab ganz schön viel Glück!"
Ich fragte sie warum sie das denken würde.
Da meinte sie: "Naja weil es Kinder gibt die nicht so gute Eltern haben!"

Ich wusste worauf sie hinaus wollte, so was sagt sie sehr oft, seit dem sie weiß, dass ich keine guten Eltern hatte. Sie weiß nicht was meine Eltern mir antaten als ich so alt war wie sie. Dazu ist sie noch zu klein. Aber es beschäftigt sie sehr, dass es Kinder gibt die keine schöne Kindheit haben.

Vor kurzem wurde sie von einem Jungen geärgert, sie erzählte mir später davon. Ich fragte sie wie sie damit umgeht und sie meinte: "Wenn er mich ärgert, ärgere ich ihn nicht zurück. Ich hau ihn auch nicht zurück, weil dann alles noch schlimmer wird und er dann traurig ist. Aber ich sage es der Erzieherin, ich finde das nämlich echt blöd!"

Wir haben uns lange über den Jungen unterhalten und meine Tochter hat sich Gedanken gemacht warum er so reagiert.
Sie hinterfragt die Dinge. Und auch das ist mir sehr ähnlich.
Ich erinnere mich:

Ich habe damals bei meinen Pflegeeltern gelebt und auf dem Spielplatz saß einmal ein Junge auf einer Mauer und weinte, ganz alleine saß er da. Ich bin zu ihm gegangen, ich habe nichts gesagt, sondern einfach nur meine Arme um ihn gelegt. Da wurde der Junge wütend, sprang auf und boxte mir in den Bauch und dann ging er weinend weg.
Ich weiß noch wie ich auf dem Boden lag und mir den Bauch hielt und alles woran ich denken konnte war: "Der arme Junge!"

Das Leben hat uns nun einmal das Multiple sein ermöglicht, wir haben eine Familie die uns als uns selbst wahrimmt und unterstützt. Shaya sagt manchmal: "Mami manchmal da kann ich mit dir richtig viel Quatsch machen, tanzen und spielen und manchmal bist du einfach nur eine Mutter!"
Das ist keine Frage, kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.

Wenn das alles ist, was ihr an meinem Multiple sein auffällt. Na das bekommen wir das, glaub ich, ganz gut hin.

Ich bin ihre Mutter, während Jo mit ihr Quatsch macht, mit ihr im Bett kugelt und den halben Kuchenteig aufisst, oder ihr die Zunge rausstreckt und laut "Scheiße" brüllt.
Wenn Shaya hinfällt und Jammert, renne ich zum Verbandskasten, wenn Jo anwesend ist, fragt sie: "Tut es sehr weh? Muss ich dein Bein abschrauben?" Und schon fängt Shaya an zu lachen: "Das meinst du jetzt nicht im Ernst!"
Und Jo sagt: "Klar mein ich das im Ernst. Wir schrauben einfach das Bein ab und schrauben ein neues ran!"

Und dann höre ich wie aus meinem Inneren, die beiden Mädchen lachen. Ich sehe wie Jo ausgelassen mit meiner Tochter durch die Wohnung tollt, oder wie sie sich an den Händen fassen und zur fetzigen Musik tanzen. Ein Teenager und ein Kind.
Und das macht mich sehr Glücklich!

Denn ich selbst kann das nicht mehr, weil ich Dauerschmerzen habe. Ich schaffe es nicht, meine Tochter hoch zu heben, oder mit ihr durch die Gegend zu rennen Ich schaffe es auch nicht Stundenlang im Wohnzimmer zu tanzen. Ich bin die Spiegelträgerin, ich bin halt ihre Mutter, alles andere überlasse das gerne meiner Jo.

Alles Liebe von Johanna


Bild: Britta im 8 Monat Schwanger mit Shaya.


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