Dienstag, 4. März 2014

Die Schreiberin schreibt Kurzgeschichten - Ein Jahr, nur ein Leben...

Vorwort von Johanna

Es gab eine Zeit (und ich hoffe sehr, das diese Zeit auch wieder kommt), da war die Schreiberin sehr aktiv. Sie schrieb Kurzgeschichten und Romane.
Einige Kurzgeschichten handeln auch - in der Tiefe betrachtet - über unser Leben, über DIS.
Viele dieser Kurzgeschichten beinhalten intime Situationen, -es gilt wie für alles hier auf unserem Block: Triggern kann jeder einzelne Satz. Wir benutzen bewusst keine Sternchen.
Denn das ist unser Blog.
Auch ist es uns egal wer ihn liest.
Wir können nicht verhindern, das es Menschen gibt, die immer noch missbrauchen, die bewusst auf Seiten von "Vielen" gehen um sich dort ihren Kick zu holen.
Hier geht es nicht um sie, hier geht es um uns. Um jeden Einzelnen.
Aus dem Grund wollen wir nicht zensieren, denn das bedeutet wieder dem die Macht zu geben, der uns einst missbrauchte. Das Schweigen ist Vergangenheit, das Verstecken war Gestern - wir leben jetzt!

Die Geschichten die hier veröffentlicht werden handeln von uns. Die Schreiberin hat MPS in Worte gekleidet, ihr einen Sinn gegeben, sie hat sie liebevoll bedeckt. Die Symbolik unseres Lebens blieb bei all dem erhalten.
Ich wünsche viel Freude beim Lesen.
Noch eine Bitte:
Bitte beachtet das Copyright.
Ihr Schreiben, ist die einzige Art sich im Außen zu zeigen. Zeigt euch Respektvoll ihr gegenüber!
DANKE!

Eure Johanna




Mit dieser Geschichte haben wir den dritten Platz eines Literaturwettbewerbs gewonnen.

Da die Schreiberin sich ihren Preis nicht selbst abholen konnte, haben wir darauf verzichtet.

Ein Jahr nur ein Leben ...

Gegenwart.

Ich sitze vor meinem Computer, starre auf die Buchstaben, ohne ein Wort zu erkennen. Ich habe noch nichts gegessen, und mein Magen schlägt Purzelbäume. Vor mit steht eine Schale mit frischem Obst, daneben ein Glas mit Bleistiften. Wo ist meine Inspiration? Meine Gedanken sind im Meer der Zeit verschwunden, wirbeln dort umher, ich vermisse nichts, warum auch, ich fühlte mich leer, unbrauchbar. Seid Martins Tod vor einem Jahr hat alles seinen Sinn verloren. Meine anfängliche Trauer schwand und macht einer Unnahbarkeit Platz. Ich bin nicht mehr zu erreichen, noch nicht mal mehr für mich selbst. Die Stelle von Martin wird irgendwann ein anderer Mensch einnehmen, nur jetzt ist sie noch so voller Tage, Monaten und Jahren, voller kleiner Erinnerungen. Wie Bilder türmen sich diese vor mir auf, lassen Gegenstände verschwimmen, nehmen mich ein, vollkommen. Das Alleinsein dauert an und ich habe mich daran gewöhnt. Die Gewöhnung ist der Tod der Idee.

Vergangenheit

„Verdammt, wo ist die Jeans mit den Flicken?“ Vor mir türmte sich die Wäsche, frisch gewaschene wie schmutzige.
Ich schüttelte den Kopf, „woher soll ich das wissen“.


Weitere Kleidungsstücke flogen an mir vorbei, Martin verschwand fast darunter. Ein Stück seines Rückens lies das Tattoo frei, ein Adler, die Schwingen weit von sich gestreckt. Ich ging in die Küche um der Unordnung zu entfliehen. Es war schwül und stickig, ein Dunst lag über der Stadt. Ich vermisste das Meer und das Geschrei der Möwen. Am offenem Fenster hing ich meinen Gedanken nach.

„Ich hab sie gefunden, machst du uns einen Kaffee?“
ich hatte ihn nicht gehört, sein Oberkörper war nackt, die Brust glattrasiert und braun gebrannt. Er achtete sehr auf sein Aussehen, mehr als die Männer mit denen ich mich sonst abgab. Ich wusste er trug keinen Slip unter der Jeans, sein Hintern zeichnete sich ab. Ich musste grinsen 

„Manch eine Frau würde dich jetzt auf der Stelle vernaschen!“.


Er erwiderte mit einem Augenzwinkern:
„Nur gut das ich vor dir sicher bin“

Es war das alte Spiel zwischen uns, wir liebten uns, und doch hatte jeder sein eigenes Leben. Ich wusste nicht mit wem er ins Bett ging und ihn interessierte es nicht was ich so in meinem Schlafzimmer trieb. Manchmal lagen wir zusammen auf der Matratze in seinem Zimmer und quatschen über den One-Night-Stand den wir hatten, oder wir trösteten einander, wenn wieder eine Beziehung in die Brüche gegangen war. Er war mehr als ein Freund, mehr als ein Bruder. Vielleicht sogar mehr als irgendwer in meinem Leben. Ich hatte nicht viele Freunde, und die Beziehungen die ich hatte, konnte ich an einer Hand abzählen. Niemand kannte mich wirklich, ich war eingeschlossen in meine Unnahbarkeit, daher gingen meine Freundschaften auch schnell in die Brüche. Nichts hält für ewig, mein Lieblingswort, für jede Situation einsetzbar.

Martin war so anders als ich, ein Gigolo, er wollte bewundert werden, geliebt werden und tat auch eine Menge dafür. Sein Charme war unwiderstehlich, und manchmal regelrecht lächerlich. Er war der Mann, den Frauen hinterher schauten. Nur hatten diese keine Chance bei ihm, denn Martin war eine Tunte, Martin war Schwul.
Seine letzte feste Beziehung lag ein Jahr zurück, aber noch immer hing ein Bild von Christian an der Wand, dieser leicht offene Mund, der mich anfänglich so sehr an einen Wal erinnerte, das Grübchen am Kinn. Christian stellte die Vollendung dar, er war das Abbild eines Engels, zumindest für Martin, dieser bewunderte ihn in stiller Trauer.
Christian war einfach gegangen, ich weiß nicht wie ich es sonst ausdrücken sollte, eines Tages war er weg, und mit ihm die Kleinigkeiten die eine Beziehung so mit sich brachten, ich hab mich oft über die verschmierten Flecken im Waschbecken aufgeregt, die Zahnpasta hinterließ, wenn der Deckel nicht aufgeschraubt wurde. Oder den hochstehenden Klodeckel. Martin selber pisste im sitzen, nachdem ich mich geweigert hatte das Bad zu säubern. Christian wollte stehen, und dabei ließ er die Tür auf, mit einem Blick über die Schulter warf er mir noch ein Grinsen zu, bevor die Klotür durch meinen Fuß unsanft ins Schloss fiel.
Christian war ein Tagträumer, wahrscheinlich lebt er jetzt irgendwo in einem Hausboot, oder fährt mit seinem Pick Up durch die Gegend, Abenteuern entgegen.


Wir hatten eine kleine aber schnuckelige Zweizimmer Wohnung mitten in der Stadt. Vom Fenster konnte ich die Schornsteine einer benachbarten Fabrik ausmachen, gegenüber stand ein Kiosk, Gammelplatz der Penner und Alks. Ich ging nur im Notfall dorthin, immer wieder musste ich mich mit Worten gegen die Angriffe wehren:

„ Wohl doch keine Frau“ Den Blick auf meine Glatze gerichtet, höhnisches Gelächter, Fummelfinger die mich betatschten. Ich hasste diesen Geruch nach billigen Fusel und alten Essensresten, ich hasste diese Typen die tagein tagaus dort zu finden waren, bis ein Taxi, oder manchmal auch die Stadtpolizei sie mitnahm. Aber man sah sie wieder, immer zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, es war widerlich.

Ich hatte die Wohnung als erste bezogen, müde vom dorfidyllischen Hinterhof mit der Weite der Wiesen und Felder, den Geruch des Meeres in der Nase, ich wollte raus, was erleben, fühlte mich noch viel zu jung für den Dorfplausch. Also ging ich nach Hamburg, um dort meine erste Liebe zu finden.

Männer hatten mich immer nur am Rande interessiert, ein kurzer Fick, und ich wachte mit einem Brummschädel wieder auf, meistens blieb es dabei, die Begegnungen nahmen mit der Zeit ab, und zurück blieb noch nicht einmal mehr die bloße Erinnerung. Männer waren nicht wichtig, und ich glaube, ihnen ging es mit mir genauso. Es gab kein Gesprächsthema, nur die Lust, die nach Sekunden verstrich und nichts hinterließ. Vor Frauen hatte ich Angst, ich selbst sah mich nicht Weiblich, viel zu mager, ohne Rundungen. Die Röcke und Schminktäschchen waren mir nicht geheuer, ich wusste nie wer mir da begegnete, hinter der Fassade eines Malkastens verbarg sich ein unbekanntes Wesen. Ich fühlte mich zu diesen Geschöpfen hingezogen und abgestoßen, ich fühlte mich ihnen nah, und war in meiner Ferne allein. - Keine Frau-, diese Wort hingen wie Spinnweben in meinem Kopf, was war ich dann?

Mama hatte geweint, als sie mich sah. Mit Glatze und Ring in der Nase.
„Ich bin keine Frau, ich tu auch nicht so“ Ich weiß nicht ob sie mir jemals verzeiht, die letzten Minuten bevor ich ging war ihr Blick in die Weite gerichtet, wir haben uns nie verabschiedet.

Es war gar nicht einfach einen Job mit der Glatze zu finden, aber in der Innenstadt war dieser Women-in-Love Laden, und dort hüpften allerlei verrückte Leute herum. Ich fiel in meinem Outfit nicht sonderlich auf. Die ersten Nächte konnte ich auch dort schlafen, am vierten Tag hatte ich meine Wohnung im Anzeigenblatt gefunden.

Zwei Zimmer mit einem Bad in der Küche, das Klo eine Stufe versetzt im Flur. Verrückt genug um mich darin zu verlieben. Lisa meine Chefin kam zum Besichtigungstermin mit.

Ich hatte Angst das man mich wegen meines Aussehens ignorierte, aber diese Angst war nicht begründet, die Wohnung gehörte vorher einer Prostituierten, und war daher schlecht zu vermieten. Mir war das egal, Ich zog noch am gleichen Abend ein.

Der Laden in dem ich arbeitete verkaufte Kondome und allerlei Spielzeug für die Frau, anfänglich hatte ich noch eine Scheu den Käufern cool entgegenzutreten, aber mit der Zeit machte mir das Vorführen der Vibratoren richtig Spaß. Ein halbes Jahr später lernte ich Katja kennen und lieben.
Es war Pfingsten und ich verbrachte die Wochenenden wie immer im Tou Lous Einer Szenekneipe für Transen und Homosexuelle, mitten in St. Georg. Mittlerweile hatte ich mir einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, meine Scheu war verflogen, ich gehörte dazu, auch wenn ich bisher noch nie etwas mit einer Frau hatte. Tara die Königin unter den Transen, Micha eine Lesbe aus Bayern, und ich, irgendwas aus Schleswig. Eine kleine Familie für das Wochenende um die Einsamkeit zu vergessen und um sich ein Zuhause zu schaffen. An diesem Wochenende begegnete mir Katja, ich stand auf der winzigen Tanzfläche und gab mich der Musik hin, als jemand von hinten an mich trat und mir einen freundlichen Klaps auf die Schulter gab. Ich starrte die Person verblüfft an und sie sah genauso erstaunt zurück.
Ein Lächeln, ein leises „Entschuldigung“ und weg war sie wieder.

Ich dagegen stand wie erstarrt und wusste nicht wie mir geschah, der Blitz hatte mich getroffen. Natürlich hatten wir uns wiedergesehen, und irgendwann geküsst, und irgendwann nahm ich sie dann mit Nachhause.
Es war dieses fremde, vertraute Gefühl. Ich war wild nach ihren Säften dem hinabgleiten in das Innere ihres Körpers. Ich schmeckte sie und sie kostete mich, ich fühlte mich angekommen, in einem Reich, dessen Tür mir bisher verschlossen blieb. Jedes mal wenn wir uns liebten wurde ich zur Frau. Ihre Nähe war gleichzeitig Distanz, lange wusste ich nicht was sie tat, wie es ihr ging, wo sie war, wenn sie nicht mit mir zusammen auf meinem viel zu engen Bett lag.


Sie wich all meinen Fragen aus.
„Ich bin frei, Süße akzeptiere das!“
Und ich akzeptierte, um sie nicht zu verlieren.


Die drei Monate mit ihr vergingen wie im Fluge, ich lernte mich von einer Seite kennen die mir neu war, ich war süchtig nach Sex, nach Berührungen, nach ihr. Meine Unabhängigkeit schmolz wenn sie in meinen Armen lag, ich liebte und wurde geliebt, tausendfach, immer wieder. Es war berauschend, bis ich aufwachte, schmerzhaft und unwirklich.
Ich erfuhr es aus einem Artikel den mir Micha schweigend entgegen streckte, in großen Lettern stand dort: Wieder eine Drogenleiche, die Sechste in diesem Jahr
Ich wollte nicht weiter lesen, und ließ das Zeitungsblatt sinken, lächelnd nahm ich Micha am Arm „ Lass uns ins Tou Lous gehen, ich will was trinken, lass uns tanzen, lass uns feiern“

Ihr Gesicht wurde bleich, aber ich sah die Tränen nicht mehr. Ich ließ sie los und ging die Stufen nach unten, noch heute sehe ich diese Treppe vor mir, weg von Micha, einem Ausgang entgegen, weg von mir selbst.


Die erste Zeit vergrub ich mich unter den Spielsachen im Laden, ich machte Überstunden, soviel ich in unserem winzigen Laden machen konnte. Lisa war dabei sich zu vergrößern, eine Videoecke musste her, ein paar Dessous , ein paar Bücher. Das kam mir gerade recht, so musste ich nicht nachdenken und trauern. Nur die Nächte waren heftig, manchmal schrie ich im Schlaf, oder wachte morgens mit nassem Kopfkissen wieder auf. Es tat weh, es zerriss mich, aber das ging nur mich etwas an. Lange wollte ich nicht darüber reden, ich schmolz mit meinen Erinnerungen zusammen und so existierte Katja weiterhin für mich, leise war sie anwesend, und leise wurde sie immer mehr zu einer Kultfigur. Nach einer Zeit gab es wieder Frauen in meinem Leben, nichts ernstes, ich bekam den Ruf eines Eisblocks, aber genau das machte mich für viele attraktiv. Und mir begann es Spaß zu machen, ein Flirt, eine Nacht und das Leben hatte mich wieder.


Tara fand meine Veränderung schrecklich, sie hasste es wenn ich mich so wie ein Mann benahm. Denn genau das tat ich, ich kaufte mir eine Leder-jeans, zog nur noch weiße Hemden an. Ich fand mich begehrenswert. Und die Frauen ebenfalls. Dann kam der Absturz, wie jeden Abend im Tou Lous trank ich viel zu viel, ich lies mich von einer Blondhaarigen abschleppen, stieg in ihr Auto und wachte am nächsten Morgen mit einer gebrochenen Rippe im Krankenhaus auf. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern, meine Augen waren zugeschwollen, ich hatte einen dicken Verband um den Kopf und um den Oberkörper, ich fühlte mich wie von einem Zug überfahren.
Tara fand mich vor dem Tou Lous, ich hatte kein Geld mehr, und war mehr tot als lebendig. Sie brachte mich ins Krankenhaus. Danach wurde ich wieder die alte, ich versuchte aus meiner Trauer herauszukommen, in dem ich anfing darüber zu reden.

Micha hatte die Idee mit der Trauerfeier für Katja. Meine Freunde schmückten das Tou Lous an einem Sommerabend, als ich dazukam war es als würde Geburtstag gefeiert. Sie hatten einen kleinen Tisch mit Abschiedskarten ausgestattet. Die Karten waren mit Katjas Bildern dekoriert. Es war lieb gemeint, aber ich musste bei diesem Anblick weinen und es war mir vollkommen egal, ob es jemand sah.
Tara nahm mich in den Arm und Micha nahm meine Hand, „Endlich kommt die ganze Scheiße mal raus!“ sagte sie leise.

Zwei Tage später suchte ich einem Mitmieter. Martin kam so in mein Leben, und es war der beste Griff den ich je gemacht hatte, als ich seine Telefonnummer wählte. Die erste Zeit ging mir der immer toll zurechtgemachte Mann auf die Nerven, die ganze Wohnung roch nach seinem Rasierwasser, und wenn er sich das Make-up ins Gesicht schmierte, waren die Handtücher danach kaum wieder zu erkennen. Ich war überrascht, da ich Männer nur ungepflegt kannte. Er war nicht nur Schwul er war auch noch tuntig. Seine Bewegungen wurden durch eine übertriebene Sorgfalt in Szene gesetzt. Sein Gang wurde durch kleine Schritte begleitet. Manchmal musste ich mir ein Grinsen unterdrücken, seine Haltung war einfach Lächerlich. Er aber fand sich regelrecht schick. Manchmal wurde aber auch aus dem tuntigen Mann, ein kleiner Macho, er zog dann Lederjeans an und lies durch die Lederweste seinen Oberkörper sehen. Die Schritte wurden größer, härter, und sein eigentlich weiches Äußeres bekam einen Maskulinen Touch. Seine Verwandlung war für mich jedes Mal ein kleiner Überraschungsauftritt, ich kam mir vor wie hinter einer Theaterbühne. Martin gab für mich seine Vorstellung. Irgendwann fing ich an ihn zu mögen.


Es war schön abends nachhause zu kommen, seine Stimme zu hören und seinen Rasierwassergeruch zu riechen. Er wurde zu meinem besten Freund. Durch ihn fing ich an zu schreiben.
Eines Tages nach reichlichem Alkoholgenus erzählte ich ihm von Katja, ich heulte mich in seinen Armen aus, und er fragte ob ich denn alles schon mal aufgeschrieben hätte, alle Gedanken, alle Erlebnisse mit ihr. Ich sah ihn ziemlich verdutzt an. Später immer noch besoffen, nahm ich mir einen Notizblock und fing an zu schreiben. Die Worte kamen mit einer Vehemenz und Ungezwungenheit, ich schrieb meine kompletten Gefühle auf, ich erarbeitete meine Traurigkeit, ich schrieb an diesem Abend den Anfang meines ersten Buches.
Am nächsten Morgen hatte ich Kopfschmerzen und mir war Kotzübel, aber ich hatte zu mir gefunden, ich hatte den Anfang gemacht. Die folgenden Tage schrieb ich wie eine Besessene, ich wollte alles loswerden, jede Erinnerung, jede Sekunde die ich mit Katja verbracht hatte. Martin wurde zu meinem Kritiker, er war auch derjenige der den Verlag suchte.
Vier Jahre später habe ich meine ersten Seiten, die ich damals noch per Hand schrieb, mit in seinen Sarg gelegt, sie sind mit Martin begraben worden. Er starb an Aids, mit knapp 27 Jahren. Das ist jetzt gerade mal ein Jahr her.


Gegenwart


Immer noch sehe ich die Buchstaben verschwimmen, ich sehe die Erinnerungen, sehe die kleinen Dinge die wir miteinander geteilt haben. Martin hat mich zurück ins Leben geholt und mit seinem Tot wurde wieder alles so wie vorher, ich vermisse ihn und ich vermisse Katja. Warum gehen alle Menschen die ich liebe?
Sie hinterlassen nichts außer Leere. Ich sehe mich im Zimmer um, vier Jahre habe ich diese kleine Wohnung geteilt, wir haben hier in der Küche gesessen, gelacht, geweint. Ich habe ihn Nachts wach gemacht wenn ich nicht schlafen konnte. Er riss mich aus dem Schlaf, wenn er aus seinem nächtlichen Szenetrip nach hause kam. Wir waren eine Familie, Martin, Tara und Micha. Nichts konnte uns vier trennen. Jetzt ist einer gegangen.


Ich habe keine Lust mehr. Ich will nicht immer von vorne anfangen. Mit Katja starb meine erste Liebe, die einzige Frau die ich wirklich an mich heran ließ. Mit Martin starb mein bester Freund, dem einzigen Mann dem ich vertraute. Wo bin ich, wer bin ich. Wie soll ich mit meiner Einsamkeit leben?
Ich sehe aus dem Fenster, halte mir die Hand vor dem Mund und denke das erste mal ernsthaft darüber nach mit zugehen, den beiden hinterher zu sprinten. Meine Vorstellung vom Tod ist sehr mit Wünschen überzogen, nicht real, vieles ziehe ich aus Mythen und Glaubens-Vorstellungen heraus.

Ich bin 26 Jahre alt, aber in mir existiert noch die Vorstellung von Engeln, und einem Himmelstor.
Ich denke daran wie Martin gelitten hatte. Er wusste es bereits als wir uns kennen lernten. Aber erst drei Jahre später, also ein Jahr vor seinem Tod weihte er mich ein.
Zuerst war ich wütend, weil ich dachte das ich es schon viel früher hätte wissen müssen. Aber als er mir erzählte warum Christian gegangen ist, wurde mir klar, das er Angst hatte auch mich zu verlieren.

Martin verriet mir nicht ob nur seine Krankheit an dem Weggehen von Christian schuld war, er sagte auch nicht ob Christian ihn angesteckt hatte. Dies war zweitrangig. Das einzige was er mir erzählte war, dass Christian der einzige Mensch war, den er liebte. In diesem Jahr wurde Martin mehr als mein Freund. Wir schliefen etwa einem Monat vor seinem Tod miteinander. Es gab keinen Grund, es ergab sich einfach so. Ich half ihm bei der Benutzung eines Kondoms, wir taten es hauptsächlich weil wir beide Eins sein wollten, die letzen Liebenden im Angesicht des Todes. Seine Erkrankung hatte bereits Auswirkungen auf seinen Körper, er hatte 20 Kilo abgenommen, seine Haut war fahl und sehr blas. Seine Bewegungen waren mit Krämpfen verbunden. Er hustete bei jeder Anstrengung.

Ich wollte das er wusste, dass ich ihm vertraute, dass ich ihn liebte. Vielleicht war das der Grund. Der Sex war seltsam gestellt, wir hatten beide Angst, dem anderen weh zu tun. Für Martin wurde ich zur ersten Frau, für mich wurde er zu meinem Kind. Als er danach in meinem Armen einschlief, wusste ich das ich ihn verloren hatte. Ich küsste ihn sanft auf die Stirn. Den Rest der Nacht hielt ich ihn umschlungen, weinte leise auf mein Kissen und nahm Abschied von unserer Freundschaft. Am nächsten Morgen kam er ins Krankenhaus, und dort starb er nach 3 Wochen Koma.
Die Beerdigung wurde zum Alptraum, seine Eltern kamen, nahmen seine Sachen mit und verfügten das er in seinem Geburtsort beerdigt werden sollte. Ich fuhr mit Tara und Micha nach Dortmund, dort fand in einer kleinen Kirche die Trauerfeier statt, zumindest dachten wir das. Aber es wurde nur ein Gebet gesprochen, der Sarg stand noch offen, und ich konnte meine Buchseiten zwischen Martin und den Stoff klemmen, bevor er geschlossen wurde. Dann ging es zum angrenzenden Friedhof, ich sah die Eltern von Martin und die jüngere Schwester. Sie redeten mit dem Pfarrer, dann drehten sie sich um und verließen den Friedhof, ohne sich von Martin verabschiedet zu haben. Tara, Micha und ich standen ziemlich verdattert vor dem offenem Grab. Micha fing an zu weinen und Tara warf eine Rose auf den Sarg, dann wurde das Grab zugeschüttet. Ich hatte eine wahnsinnige Wut auf diese Menschen die sich Martins Familie nannten. Sie hatten ihn wiedereinmal allein gelassen. Diesmal für immer.

Es ist mühsam alle Erinnerungen zu sortieren, mittlerweile habe ich alles niedergeschrieben, meine Gedanken, meine Gefühle, ich habe Martin beschrieben, Katja, Tara und Micha. Alle Personen meines Lebens haben nun einen festen Platz in meiner Geschichte, nur mich selbst gibt es kaum, ich habe mich vergessen.

Immer noch versuche ich krampfhaft an den alten Dingen festzuhalten, ich versuche meine kleine Welt zu schützen. Dabei mache ich den Fehler, das ich nicht vorwärts sehe, ich sehe die Welt vom Rücksitz eines Autos, wie wenn ein Kind auf der Rückbank kniet und nach hinten sieht, genauso sehe ich mein Leben. Die besten Szenen liegen hinter mir. Die schmerzhaftesten auch. Was soll nun noch Kommen?

Bei diesem Gedanken muss ich in mich hineingrinsen. Der Sommer hat wieder einem neuen Herbst platz gemacht. Der Herbst wird einem Winter weichen. Irgendwann werde ich hier sitzen und mir Gedanken um ein Leben machen von dem ich momentan keine Ahnung habe. Ich weiß nicht was die Zukunft bringt. Ich weiß nur was die Vergangenheit mir genommen hat, die Trauer um diese zwei Menschen sitzt noch zu tief. Vielleicht werde ich mich nie wieder verlieben, vielleicht werde ich weiter suchen nach einem Sinn. Sicher werde ich nicht vom Hochhaus springen und ich werde auch keine Tabletten nehmen. Ich werde mich vielleicht besaufen, wenn ich hiermit fertig bin. Ja ich denke, ich gehe ins Tou Lous, treffe auf Tara und dann werden wir Wodka - Lemmon bis zum Abwinken trinken.
Ja und vielleicht wird mir eine Frau von der Tanzfläche zugrinsen, vielleicht werde ich dann eine heiße Nacht haben und vielleicht werde ich dann auch wieder den Rücksitz verlassen, aber nur vielleicht, denn es ist mein Leben, das ich hier beschreibe, und ich glaube nicht mehr an die große Liebe. Sie ist mit Katja und Martin gestorben.
Aber Tief in mir bin ich froh das es ein Vielleicht gibt .

Ende



Diese Geschichte schrieb die Schreiberin für die Menschen die wir an den Tot verloren haben:
Annabell (Ermordet), Saskia (Autounfall), Gaby (die Drogentote Nr. 6), Torsten (Selbstmord), einigen Kids aus Frankfurt die an der Nadel hingen.
Sie schrieb sie für meine erste Frau Marion, einer Drogendealerin: "Ich bin frei süsse, akzeptier das" war einer ihrer Lieblingssätze.

Und für die Vielen in mir, die wir damals noch nicht kannten. Der Titel: Ein Jahr nur ein Leben ... hat die Bedeutung das wir lange Einsam waren, wir hatten damals keinen Kontakt zum innen. Es war eine harte Zeit. Letztendlich schrieb sie diese Geschichte für mich und Jo.


Johanna:
Bitte hier das Copyright beachten. Die Geschichten dürfen nur nach ausdrücklicher Genehmigung kopiert oder/und vervielfältigt werden.

© Johanna Schlitzkus/Die Schreiberin

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